Du siehst gar nicht behindert aus. Du bist zu jung, um schwer krank zu sein. Du bist zu fit um einen Schwerbehindertenausweis zu haben. Du bist zu fröhlich. Man sieht dir deine Krankheit gar nicht an. Siehst du, es geht doch – du musst dich nur ein bisschen zusammenreißen.
Diese Sätze begegnen mir nun seit knapp neun Jahren. Und jedes Mal frage ich mich: Wie sehen denn behinderte Menschen idealerweise aus? Ich mag diesen Ausdruck „behindert“ ohnehin nicht besonders. Es bedeutet doch nichts anderes, als das wir in manchen Bereichen unseres Lebens eingeschränkt sind und Hilfe brauchen. Bei manchen ist es sichtbar, bei anderen nicht.
An schlechten Tagen kämpfe ich nur darum, überhaupt aus dem Bett zu kommen. Dann fallen mir die kleinsten Dinge im Alltag schwer, weil ich einen depressiven Schub oder starke Schmerzen habe. Waschen, Zähne putzen, anziehen, Essen machen – all die alltäglichen kleinen Dinge überfordern mich. Schwer vorstellbar, oder?
Zeitgleich kämpft in mir gerade mein Knochenmark ums Überleben, doch auch dieser Kampf ist nur im Blutbild sichtbar. Aber ich merke es. Ich spüre die Schwäche in mir, muss mich immer vorsehen, mich nicht anzustecken und habe Schmerzen in den Knochen, die besonders viel Knochenmark enthalten.
Und Krankheit fragt nicht nach dem Alter – ich wurde mit 25 Jahren erwerbsunfähig. Oft wurde ich komisch angeschaut, wenn ich bei irgendeiner Veranstaltung nach der Ermäßigung für Renter bzw. Schwerbehinderte fragte. Auch ich selbst dachte, mein Leben wäre vorbei. Rentner – was sollte da noch kommen? Ganz, ganz viel! Mein Leben ist nun bunter und abwechslungsreicher als je zuvor und meine alltäglichen Schwierigkeiten dringen nur selten bis nach draußen.
Auch als ich die Diagnose Aplastische Anämie erhielt, fühlte es sich an, als würde ich nächste Woche sterben. Ich nahm nur noch diesen Gedanken wahr...und ich starb durch diesen Gedanken jeden Tag ein Stückchen mehr.
Eines Nachts habe ich diesen Gedanken geworkt:
Ich werde an dieser Krankheit sterben!
Ein Vorteil, Nachts um drei Uhr zu worken, ist die Stille und auch in mir wurde es still. Dann stellte ich mir die vier Fragen:
Ist das wahr?
Ja, für mich war es heute Nacht wahr.
Kann ich mir absolut sicher sein?
Nein, das konnte ich nicht.
Wie fühlt es sich an, wenn ich diesen Satz glaube?
Es machte verdammte Angst, mein Hals ging zu, ich hatte einen Knoten im Bauch, das Atmen fiel mir schwer, mein Puls raste. Ich fühlte mich abgeschnitten von der Welt, empfand keine Freude
mehr. Eine Sinnlosigkeit machte sich breit. Ich fühlte mich schwach, hilflos und ohnmächtig. Ich spürte, hier ist etwas, das mächtiger ist als ich. Etwas, das ich bekämpfen musste um jeden Preis.
Wenn ich auch nur eine Handbreit nachgeben würde, würde ich verlieren. Das fühlte sich hart an, vor allem war ich hart mit mir selbst.
Wie würde ich mich ohne den Gedanken fühlen?
Das erste Wort, das mir in den Sinn kam war: Frei! Ich wäre nicht hilflos, ohnmächtig oder schwach. Ich merkte, wie sich mein ganzer Körper entspannte
– ich musste nicht kämpfen. Meine Sinne öffneten sich weit, ich konnte wieder alles aufnehmen, was um mich herum war. Ich spürte, ich war DA. Heute, hier und jetzt war ich DA. Heute, hier und
jetzt konnte ich hören, sehen, riechen, schmecken, fühlen...alles andere zählte nicht mehr. Der Augenblick war wichtig.
Ich ließ mir Zeit, in dieser Erkenntnis zu verweilen, ehe ich mich den Umkehrungen widmete.
Ich werde nicht an dieser Krankheit sterben!
Auch diese Umkehrung ist wahr. Es gibt viele Behandlungsmöglichkeiten (Bluttransfusionen, Breitband-Antibiotika, Immunsuppresiva und Knochenmarkstransplantation). Ich könnte Glück haben und mit
Transfusionen auskommen oder die Therapie mit Immunsuppresssiva könnte mir eine Remission bringen. Oder ich finde einen geeigneten Knochenmarksspender. Auch an etwas anderem zu sterben, als an
dieser Krankheit, habe ich in meine Überlegungen einbezogen. Ich könnte aus dem Haus gehen und vom Bus überrollt werden. Darüber mache ich mir ja aber auch keine Gedanken, wenn ich aus dem Haus
gehe.
Ich darf an der Krankheit sterben!
Diese Umkehrung ist etwas gewagt, hat mir aber sehr geholfen. Die Aplastische Anämie ist eine sehr schwere Erkrankung und wenn ich ihr erliegen sollte, ist das kein Zeichen von Schwäche. Ich bin
mit 33 Jahren nicht unbedingt bereit, schon zu sterben, aber es hilft auch nicht sich dieser Möglichkeit völlig zu verschließen. Aber ich habe die Wahl, was ich mit meiner restlichen Zeit
anfange. Ich habe beschlossen, diese Zeit – wie lang sie auch immer sein mag – so gut wie möglich zu nutzen. Dinge zu tun, die ich schon immer tun wollte, aber verschoben habe, weil ich dachte,
ich hätte noch Zeit. Jeden Augenblick so zu nehmen, wie er ist. Was morgen ist, weiß niemand...
Meine Gedanken über diese Krankheit dürfen sterben!
Das ist eine sehr interessante Umkehrung! Im Moment machen mir meine Gedanken das größte Problem. Wenn die "weg" wären, wäre die Realität immer noch genauso wie sie jetzt ist. Aber die Angst wäre
viel kleiner und würde mich nicht am Leben hindern. Das wäre dann auch gleich noch eine Umkehrung:
Ich sterbe durch meine Gedanken.
Diese Umkehrung ist vermutlich nicht ganz einfach nachzuvollziehen, aber in ihr steckt unheimlich viel Wahrheit! Denn durch diese Gedanken bin ich abgeschnitten vom Leben - ich "sterbe" obwohl
ich noch am Leben bin.
Die Krankheit stirbt an mir!
Was für eine machtvolle Umkehrung! Sie hilft mir, wann immer ich drohe, an der Krankheit zu verzweifeln. Ich weiß nicht, was mich mit dieser Krankheit noch erwartet – ABER: Die Krankheit weiß auch nicht, mit wem sie sich da angelegt hat! So lange die Krankheit nicht meine Gedanken bestimmt, hat sie keine Macht über mich.
Ich finde den Gedanken beruhigend, dass auf den ersten Blick hin nichts so absolut ist, wie es scheint.
Liebe Grüße
Steffi
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Sabine Nebenthal (Dienstag, 11 Juli 2017 11:47)
Wow Steffi,
das ist so wundervolle wie du das beschreibst.
Das gibt so viel Mut und HOffnung für allle Bereiche des Lebens.
Ich bin foh dich getroffen zu haben.
Herzliche Umarmung
Sabine
Steffi (Dienstag, 11 Juli 2017 12:52)
Vielen lieben Dank! Ich freu immer
wenn ich hilfreich sein kann!